Hallo, ich heiße Oliver und bin ein Language Specialist für das Gengo-Sprachenpaar EN-DE. Ich möchte über die nächsten Monate in lockerer Folge auf Dinge eingehen, die mir bei GoCheck-Überprüfungen auffallen. Ich hoffe, damit Anregungen und Hilfestellungen bieten zu können.
Die bisherigen Artikel in dieser Reihe:
Teil 1 – Einige grundsätzliche Aspekte des Übersetzens
Teil 2 – Kleinigkeiten mit großer Wirkung
Teil 3 – Die Suche nach dem Sinn
Teil 4 – Von Punkten und Strichen
Teil 5 – Ungleiche Geschwister
Teil 6 – Englisch, Deutsch und Fachchinesisch
Dieser siebente Beitrag nun befasst sich mit einem schwer fassbaren Bereich – dem authentischen Klang.
Mehrere Faktoren tragen zu einer guten Übersetzung bei, und die meisten von ihnen lassen sich recht klar definieren. Dazu zählen beispielsweise die korrekte Wiedergabe des Inhalts oder die durchgehende Beachtung der Rechtschreib-, Zeichensetzungs- und Grammatikregeln der Zielsprache. Hier lässt sich im Normalfall ein Fehler klar bestimmen. Schwieriger hingegen wird es bei Dingen, die mehr oder weniger stark Auslegungssache sind.
So mancher von uns wird vermutlich Erinnerungen an die Schulzeit haben, in denen vermeintliche (oder auch tatsächliche) Willkür eines Deutschlehrers bei der Aufsatzbenotung eine Rolle spielt. Da war dann eine Formulierung oder eine kompletter Satz unübersehbar rot unterstrichen und am Rand der Seite stand als Begründung der Fehlermarkierung ein einziges Wort: "Stil!" – meist mit dem anklagenden Ausrufezeichen versehen. Weil kein Verstoß gegen eindeutig definierte, "harte" Regeln vorlag, entstand in solchen Fällen leicht der Eindruck, dass der betreffende Satz einfach nicht dem persönlichen Geschmack des Lehrers entsprach und die Einstufung als Fehler somit subjektiv und ungerecht war. Zu meinem Unbehagen finde ich mich nunmehr bei der Qualitätsprüfung von Übersetzungen gelegentlich in der Position des Lehrers wieder, wenn auch mit einem anderen Blickwinkel.
Wann ist eine Übersetzung gelungen? Wie oben schon erwähnt spielen inhaltliche und sprachliche Korrektheit eine bedeutende Rolle. Aber es gibt einen sehr wichtigen Faktor, der oftmals übersehen wird: Eine gelungene Übersetzung zeichnet sich auch dadurch aus, dass die Person, an die sie gerichtet ist, sie nicht als Übersetzung wahrnimmt. Doch schon Kleinigkeiten können dabei zu Stolpersteinen werden, wie dieses Beispiel zeigt:
EN-Ausgangstext: On a scale from 1 to 5, how would you rate this item?
DE-Übersetzung: Auf einer Skala von 1 bis 5, wie würden Sie diesen Artikel bewerten?
Korrektur: Wie würden Sie diesen Artikel auf einer Skala von 1 bis 5 bewerten?
Die ursprüngliche deutsche Übersetzung war natürlich funktional brauchbar – sie gab den Inhalt korrekt und unmissverständlich wieder. Aber die Übernahme der im Deutschen nicht verwendeten englischen Satzstellung resultierte in einer Formulierung, die ihre Herkunft verriet.
Aber nicht nur die Satzkonstruktion kann diese Wirkung hervorrufen, sondern auch die Wortwahl, wie dieses Beispiel zeigt:
EN-Ausgangstext: Bidders are welcome to examine the car.
DE-Übersetzung: Bieter sind willkommen, das Auto zu begutachten.
Korrektur: Es ist Bietern möglich, das Auto zu begutachten.
Auch hier erfüllt die Übersetzung einerseits ihren Zweck, weil die Aussage eindeutig ist – doch die allzu direkte Übertragung führte zu einem im Deutschen nicht üblichen Ausdruck und machte somit erkennbar, dass der Text ursprünglich in einer anderen Sprache verfasst war.
Und selbst dann, wenn man einen für sich genommen korrekten Satz formuliert, kann die Herkunft aus dem Englischen sich unversehens bemerkbar machen:
EN-Ausgangstext: Please allow me to inform you that these are different programs.
DE-Übersetzung: Bitte erlauben Sie mir, Sie darüber zu informieren, dass dies unterschiedliche Programme sind.
Korrektur: Ich möchte Sie darüber informieren, dass dies unterschiedliche Programme sind.
Zwar ist die ursprüngliche deutsche Übersetzung korrekt und verletzt keine Regeln – doch die unmittelbar aus dem Englischen übernommene Höflichkeitsformel wirkt überladen und unnatürlich. Sie lässt rasch erahnen, dass dieser Text nicht auf Deutsch verfasst, sondern aus einer anderen Sprache übersetzt wurde.
Natürlich könnte man die Ansicht vertreten, dass es kein Problem darstellt, wenn eine Übersetzung durch solche Details als Übersetzung erkennbar ist, solange Inhalt und Verständlichkeit nicht leiden. Doch abgesehen davon, dass guter Stil ein selbstverständliches Merkmal einer guten Übersetzung sein sollte, muss man sich die weniger offensichtlichen Risiken vergegenwärtigen: Ist einem Leser erst einmal eine derartige Stelle aufgefallen, an der sich die Übersetzung verrät, dann kann es leicht sein, dass er nach weiteren Beispielen zu suchen beginnt. Dadurch wird er vom eigentlichen Inhalt abgelenkt, und eine Übersetzung sollte natürlich die beabsichtigte Kommunikationsfunktion eines Textes nicht untergraben. Und die Folgen könnten sogar noch schwerwiegender sein – gibt sich ein Text durch schwache, nicht authentisch klingende Formulierungen als Übertragung aus einer anderen Sprache zu erkennen, könnte das beim Leser Zweifel an der allgemeinen Qualität und somit auch der inhaltlichen Zuverlässigkeit der Übersetzung hervorrufen, selbst wenn es dafür keinen Anlass gibt.
Es gibt bedauerlicherweise kein Regelwerk und kein Patentrezept, um den authentischen Klang einer Übersetzung sicherzustellen. Aber oftmals kann man schon viel bewirken, indem man sich gelegentlich fragt: "Hätte ich das auch so ausgedrückt, wenn es keine Übersetzung wäre, sondern mein eigener Text?" Es ist erstaunlich, wie vielen unnatürlichen, "übersetzt" klingenden Formulierungen man auf diese einfache Weise auf die Spur kommen kann. Es ist letztlich eine Sache des Gefühls – und es ist für einen Übersetzer keine Schande, auf sein Gefühl zu hören.
Ich hoffe, diese Überlegungen erweisen sich als hilfreich oder anregend – und Kommentare sind mir natürlich sehr willkommen.
2 comments
Ich finde, das ist mal wieder ein sehr gelungener und hilfreicher Artikel.
Vielen Dank :)